29 Wunsch der Kunden, etwa, um diverse Makel aus ihren Gesichtern zu entfernen. Diese Dienstleistung wird bald von allen Ateliers angeboten; kein Porträtfotograf kann sich der Eitelkeit der Kunden entziehen. Die Retuschierung geschehe jedoch „leider nur zu häufig zum Schaden und Ruin individueller Eigenart der Porträtierten“, klagt der preußische Hoffotograf Georg Pflaum in einer von ihm verfassten Broschüre: „Das Publikum ist durch stete Wiederholung gewöhnt, von der Photographie einer Person ein geglättetes und vorteilhaft hergerichtetes Bild zu erhalten und ist so leicht nicht zu bewegen, hierauf zu verzichten.“ Beim bürgerlichen Publikum erfreuen sich alsbald kleinformatige Porträts von 5,5 x 9 Zentimetern Größe großer Beliebtheit. Diese„Visitfotos“ gehen zurück auf den Pariser Fotografen André Adolphe-Eugène Disdéri, der ein Patent auf ein Verfahren erhält, bei dem mehrere kleine Porträts auf eine einzige Glasplatte aufgenommen werden. Von diesen Porträts wird dann auf einmal ein Abzug auf Papier gemacht. Der Abzug wird geschnitten und die einzelnen Kleinporträts werden auf „Visitkartons“ im selben Format wie gebräuchliche Visitkarten geklebt. Es ist ein kommerzieller Kunstgriff: Durch die Herstellung von mehreren Bildnissen gleichzeitig sinken die Herstellungskosten pro Bild drastisch, was dem Fotografen entsprechenden Profit verspricht. Später wird für diese Art Visitporträts eine mehrlinsige Kamera entwickelt, welche gleich mehrere Bilder gleichzeitig macht. Es dauert eine Weile, bis sich die neue Mode, ausgehend von höchsten Kreisen, in der Pariser Gesellschaft etabliert. Dann aber ist der Andrang groß. Auch in Wien bricht eine Begeisterungswelle los. Ludwig Angerer, der ein Atelier für Porträtfotografie eingerichtet hat, vertreibt die Porträts von Kaiser Franz Joseph und dessen Gemahlin Elisabeth. Solche Porträts berühmter Persönlichkeiten werden zahllos hergestellt und verkauft, oft an Sammler, die sie in Alben aufbewahren. Nach dem Vorbild der kaiserlichen Herrschaften sucht aber auch das Bürgertum, sich selbst ins Bild zu setzen. Angerer bietet Visitkartenfotos an und verzeichnet eine stürmische Nachfrage mit wochenlangen Vormerkungen. Die Kunden posieren für ihre Visitkartenfotos zumeist in „ganzer Figur“ neben edlen Tischen, vor kunstvoll gerafften Vorhängen, an klassisch anmutenden Säulenstümpfen oder hinter Balustraden. Es empfiehlt sich nach wie vor, der porträtierten Person die Möglichkeit zu geben, sich irgendwo anzulehnen, um ein Schwanken von vornherein zu vermeiden. Anton Martin beschreibt in seinem Handbuch der gesammten Photographie solcherart hübsches Atelierbeiwerk, kritisiert aber die Monotonie in der Verwendung stets derselben Utensilien: „Es besteht fast kein grösseres Atelier, welches nicht seine Säule und seine Balustrade
Dokument
Es werde Bild! : Geschichte der Fotokamera / Wolfgang Pensold, Eva Tamara Asboth, Otmar Moritsch
Seite
29
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten