120fall, dass die Siegermächte Kriegsbeute in Form von Spezialisten ausHitlers Armee machen, um sie für sich weiterarbeiten zu lassen. Ob essich dabei um überzeugte Nationalsozialisten handelt oder nicht, istnicht entscheidend. Für moralische Überlegungen bleibt wenig Raum indiesen Tagen. Der verheerende Zweite Weltkrieg ist kaum zu Ende, stehtbereits der Kalte Krieg bevor, die drohende Auseinandersetzung derwestlichen Welt mit der mächtigen, nunmehr mitten in Europa stehenden Streitmacht Stalins.Vor diesem Hintergrund wird die in Bletchley Park entwickelte Geheimwaffe mit dem Codenamen„Ultra“ nicht außer Dienst gestellt. Man richtetsie zunächst verstärkt gegen den japanischen Funkverkehr, der auf einerWeiterentwicklung der Enigma basiert, und nach der Kapitulation Japansim August 1945 gegen den sowjetischen, zumal die Rote Armee aucherbeutete Enigmas für ihren Funkverkehr einsetzt. Darüber hinaus gebenBriten und Amerikaner die eingesammelten Enigmas an andere Staatenweiter(die das vermeintlich sichere Chiffriersystem gerne übernehmen)und können deshalb in der Folge deren geheimen Nachrichtenverkehrbequem mitlesen.Angesichts dessen wird die Geschichte von Bletchley Park weit über dasKriegsende hinaus als Staatsgeheimnis behandelt. Tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind per Eid verpflichtet, auch nach ihrer Entlassungins Zivilleben über das Ultra-Geheimnis Stillschweigen zu bewahren. Sogargegenüber der eigenen Familie muss verheimlicht werden, womit manwährend des Krieges beschäftigt war.Bletchley Park wird zu einem Tabu. Das hat zur Folge, dass sich der Irrglaube von der Unangreifbarkeit der Enigma verfestigen kann. Karl Dönitz, derbei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen der Todesstrafe entgeht,weil dem Gericht manches Beweisstück nicht vorliegt, weiß lange Zeitnichts über seinen einstigen geheimen Gegner. Ähnliches gilt für HeinzBonatz, den vormaligen Leiter des Beobachtungsdienstes, der die Enigmabis zuletzt für unangreifbar hält. Es ist das letzte Geheimnis der Enigma,das allmählich ans Licht der Öffentlichkeit drängt.1967 beschreibt der Warschauer Militärhistoriker Władysław Kozaczukdie Entzauberung der Enigma durch die polnischen Kryptologen in den1930er Jahren, doch wird dem hinter dem Eisernen Vorhang erschienenenBuch im Westen kaum Beachtung geschenkt. Polen gehört mittlerweile zuden Staaten des Warschauer Pakts, dem Todfeind der westlichen Welt imKalten Krieg. 1973 aber publiziert Gustave Bertrand in Paris„Énigma ou laplus grande énigme de la guerre 1939–1945“, worin er die polnisch-französische Zusammenarbeit schildert. Das provoziert eine britische Reaktion,die auch prompt erfolgt. 1974 erscheint Frederick Winterbothams Buch