30 Alle Welt hat das Gefühl, etwas Neuem gegenüber zu stehen. Die Laien­welt, für die jedes Bauwerk classificiert sein muss, steht diesen Bauwerken rathlos gegenüber. Es fehlt den Leuten die Rubrik, in welche diese Bauten gesetzt werden müssen. Sie sind nicht Renaissance, nicht Empire, nicht Gothik, nicht Griechisch. Dass sie modern sein könnten, denken sie nicht. Jede Zeit, jede Epoche hat den augenblicklichen Bedürfnissen Rechnung getragen, nur die Neuzeit hat sich bisher gefallen, unsere Vorgänger zu copieren. Nur sie blieb auf dem sterilen Boden der Nachahmung stehen. Von einem schöpferischen Schaffen war keine Spur. 4 Für andere Bauaufgaben, wie etwa Friedhofsanlagen, Kirchen, Postge­bäude 5 , Bahnhöfe und diverse Prunkbauten, gab es bereits erprobte und in sich funktionierende Gebäudeprototypen. Die Benutzer wussten mit dieser eindeutigen Formensprache der jeweiligen Gebäude umzugehen, verstanden bereits deren Zweck und Funktion. Für die Architektur der Wiener Stadtbahn, für die Wagner erst eine eigene und allgemein gültige Formensprache entwickeln musste, traf diese Nutzungssicherheit noch nicht zu der Gebrauch musste erst verstanden und mit der Formen­sprache in Einklang gebracht werden. Überall ist das Constructive betont, den modernen Bedürfnissen ist durchwegs Rechnung getragen. Die Construction ist geschmückt, nie aber der Schmuck construiert. Mit wenig Mitteln wurde viel geboten. Da gibt es keine lügnerischen Säulen- und Palastarchitektur, keine Flausen, es ist das Praktische, das Einfache, das Würdevolle, das Constructive, das Schöne, welches sofort gefangen nimmt. Mit einem Wort, es ist das Moderne. 6 In anderen Städten, wo etwa zur gleichen Zeit Bahnsysteme innerhalb des Stadtgebietes gebaut wurden, plante man bereits für elektrisch betriebene Bahnen. In Wien wäre dies zwar ebenfalls möglich gewesen, allerdings entschied man sich, auf den altbewährten Dampfbetrieb zu vertrauen. Eine strombetriebene Bahn hätte zu wenig Leistung erbracht, um einen durchgängigen Betrieb zu gewährleisten, da man diese nicht nur für den Personen-, sondern auch für den Güterverkehr nutzen wollte. Die Wiener Elektrizitätswerke konnten keine Garantie für eine ausreichende Stromver­sorgung übernehmen. 7