96 Seide Seide wird aus Kokons der Seidenraupe erzeugt. Diese ernährt sich von Blättern des Maulbeerbaums. Bevor sich die Raupen aus ihrem selbst produzierten Faden befreien können, werden sie, meist in heißem Wasser, getötet und die Kokons abgewickelt. Seide ist somit das einzige natür­liche Textilmaterial, das nicht gesponnen, sondern nur gehaspelt wird. Ursprungsland der Seidenherstellung ist China. Im Mittelalter gelangte die Kenntnis davon zunächst nach Italien und dann in andere europäische Regionen. Viele Herrscher förderten die Pflanzung von Maulbeerbäumen. Probleme ergaben sich aber durch das kältere Klima, die Anfälligkeit der Seidenraupen für viele Krankheiten und den Unwillen großer Teile der Landbevölkerung, sich mit diesem Gewerbe zu befassen. Die Abhängigkeit von den asiatischen Produzenten setzte Überlegungen in Gang, die natürliche Seide durch ein Produkt mit ähnlichen Eigen­schaften zu substituieren. Zum Ausgangsmaterial wurde Zellulose, ein wesentlicher Bestandteil von Pflanzen. Der französische Chemiker Hilaire de Chardonnet wandelte bei Versuchen zunächst Maulbeerblätter und dann Baumwolle fast reine Zellulose durch Behandlung mit Säuren in Zellulosenitrat um. Er löste dieses anschließend in Alkohol und Äther auf und presste die flüssige Masse durch feine Spinndüsen in ein Fällbad. 1884 erhielt Chardonnet ein Patent auf seine Erfindung. Damals kam dafür der BegriffKunstseide auf. In der Folge wurden weitere Verfahren entwickelt. Sie unterschieden sich durch die Vorbehandlung der Zellulose und die Chemikalien in der Spinnlösung. Die Produkte hießen z.B. Glanz­stoff, Viskose, Vistra, Azetat- oder Kupferseide bzw. Bembergseide. 1904 entstand als Ableger deutscher Firmen dieErste Österreichische Glanz­stoff-Fabrik AG Wien mit Standort in St. Pölten. Die Eigenschaften natürlicher Seide, ihre Weichheit, Dehnbarkeit, Festig­keit und der spezielle Glanz wurden von der Kunstseide nicht bzw. nur mit Hilfe verschiedener Nachbehandlungen erreicht. Dennoch konnte sich das neue Produkt als Konkurrenz auf den Märkten etablieren. Dazu trug auch publizistische Propaganda bei. So verfasste der populäre Journalist und Science-Fiction-Autor Hans Dominik 1936 das BuchVistra das weiße Gold Deutschlands. Die Fertigung dieses Produkts aus heimischen Rohstoffen ging konform mit den Autarkiebestrebungen des Nationalsozialismus. Lit.: Schwedt 2013