146 Notlösungen Kurz vor dem Ersten Weltkrieg arbeiteten deutsche Chemiker an Verfah­ren, um wichtige Naturstoffe zu substituieren. Sie erzeugten in vorerst kleinen Mengen Dünger und Sprengmittel aus Luftstickstoff(Fritz Haber, Karl Bosch), synthetischen Kautschuk(Fritz Hofmann, Karl Dietrich Harries) und künstliche Treibstoffe aus verflüssigter Kohle(Friedrich Bergius). Durch den Kriegsausbruch blieben einige zuvor massenhaft importierte Stoffe aus, dadurch erhielten solche Forschungen große Bedeutung. Österreichi­sche Chemiker konnten mit diesen Innovationen nicht Schritt halten, doch betrieben auch sie kriegsrelevante Forschung und Entwicklung. So wurden Gegenstände aus den nur unzureichend vorhandenen Nichteisenmetallen eingeschmolzen und zu Rüstungsgütern umgearbeitet. Dafür mussten neue metallurgische Verfahren entwickelt werden. Angesichts des gravierenden Kupfermangels wurden elektrische Leitungen aus Ersatzmetallen wie Alumi­nium oder Eisen erzeugt. Zur ausreichenden Textilienproduktion mangelte es ferner an Schaf- und Baumwolle sowie an Leinen. Deshalb wurde u.a. der Anbau und die Verarbeitung von Brennesselfasern propagiert. Dabei engagierte sich vorwiegend das UnternehmenBenedikt Schrolls Sohn in Braunau-Ölberg und Halbstadt(Böhmen). Andere Firmen lieferten Kleidung und weitere Textilgewebe aus Papiergarn. Aufgrund ausbleibender tropischer Öle und wegen Glyzerinmangels ver­loren auch Seifen an Qualität; sie wurden u.a. mit Sand und Ton versetzt. Das renommierte UnternehmenGeorg Schicht AG in Aussig lieferte eine Toiletteseife mit der BezeichnungKriegsverband. Weitere Objekte in der Sammlung sind Proben von Glyzerinersatz aus Zucker(Fermentol) und Kaut­schukersatz aus Maisöl. Im letzten Kriegsjahr 1918 fand im Wiener Prater eine Ausstellung statt, mit dem Ziel, den schlechten Ruf der Ersatzstoffe zu verbessern. Mit Kriegsende verschwanden aber die meisten dieser Produkte rasch wieder vom Markt. Nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie be­stand in Österreich nur mangelhafte Kontinuität in der Ersatzstoffforschung. In Deutschland wurden diese Ansätze dagegen in den 1920er Jahren weiter verfolgt und später u.a. für die Autarkiepolitik des Nationalsozialismus dienstbar gemacht. Um den mit negativen Erinnerungen belasteten Begriff Ersatz zu vermeiden, wurde in der NS-Zeit der BegriffAustauschstoffe verwendet. Lit.: Weitensfelder 2013a, 2014, 2015a