73„Russenbriefe“ aus der UkraineEin besonders komplexer Fall im Rahmen der Provenienzforschung war derFund eines Konvoluts mit 1.186 Briefen im Archivbestand des ehemaligenPost- und Telegraphenmuseums.143Es handelt sich um private Briefe inukrainischer, russischer und jiddischer Sprache bzw. in kyrillischer und hebräischer Schrift. Die meisten Briefe sind verschlossen; viele stecken nichtin einem Kuvert, sondern das beschriebene Papier wurde zu einem Dreieckgefaltet, sodass der Brieftext auf der Innenseite zu liegen kam, währendman außen die Angaben zum Empfänger notierte.Wie diese Briefe in das Technische Museum gekommen sind, darübergibt ein Brief Auskunft, den Dr. Gustav Oelschläger(1900–1946) der damalige Telegrapheninspektor beim Generalpostkommissar Ukraine Rowno(Wolhynien) am 25. August 1942 an den damaligen Direktor des Post- undTelegraphenmuseums Erhard Riedel schrieb:„Das ist nun die letzte Sendung der russischen Briefsammlung; ich bitte, die Briefe in ihrer Gesamtheit beisammen zu lassen und geschlossen aufzuheben, da sie alle ausWolhynien und aus der Zeit um den 22. Juni 1942[richtig: 1941] stammen.Diese Briefsammlung gibt dann ein Bild über die Stimmung im russischenVolk vor Beginn des Krieges“.Insgesamt übermittelte der promovierte Historiker Oelschläger, der seit1932 Mitglied der NSDAP war, fünf Pakete mit„Russenbriefen“. Das Generalpostkommissariat Ukraine war bei Kriegsbeginn gegen die Sowjetunionzur Sicherstellung der Postversorgung eingerichtet worden. Die Korrespondenzstücke waren zum Großteil ungestempelt und verschlossen. Auf Grundder beiliegenden datierten Postkarten kann davon ausgegangen werden,dass die Stücke nach dem 21. Juni 1941 geschrieben wurden, aber aufGrund der Kriegshandlungen nicht mehr von der sowjetischen Post befördert werden konnten.Als Empfänger- oder Absenderadresse scheinen bei fast allen Briefen undKarten die westukrainische Stadt Kamenez Podolski bzw. der gleichnamigeBezirk auf. Kamenez Podolski wurde Anfang Juli 1941 von deutschen undungarischen Truppen besetzt. In der Stadt lebten Armenier, Polen, Ukrainer,Russen und Juden. Letztere machten 1939 38 Prozent der Bevölkerungaus. Im Juli und August 1941 wurden tausende Juden aus der ungarischbesetzten Karpato-Ukraine abgeschoben, sodass sich die Zahl der Judenin Kamenez Podolski auf 26.000 erhöhte. Rund 23.600 Menschen wurden Ende August 1941 von den deutschen Besatzern in einem dreitägi-