72 In ihren gemeinsamen Forschungen untersuchten die beiden das Phäno­men der Radioaktivität. Lise Meitners Schwerpunkt lag u. a. auf der Be­stimmung der Geschwindigkeit der Beta-Strahlen. 1909 nahm sie an einem Kongress in Salzburg teil, dort referierte sie erstmals über Beta-Strahlen. Niemand geringerer als Albert Einstein hielt ebendort einen Vortrag über seine Allgemeine Relativitätstheorie. 1910 traf Lise Meitner auf einem internationalen Kongress fürRadiologie und Elektrizität in Brüssel die bekannte Physikerin Marie Curie. Hier wurde auch die Bezeichnung Curie aus der Taufe gehoben, mit der die Anzahl der radioaktiven Zerfälle eines Stoffes pro Zeiteinheit angegeben wurde. Da Lise Meitner ohne eigene Familie war, konnte sie sich ganz dem Forschen widmen und lernte im Zuge ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit interessante Menschen kennen.Ich bin in meine persönliche Freiheit ver­liebt. 18 Trotz alledem zweifelte sie oft an ihren Lebensvorstellungen:Und was mich am meisten drückt, ist der schreckliche Egoismus, der in meiner jetzigen Lebensweise liegt. Alles, was ich tue, nützt im besten Falle mir allein, meinem Ehrgeiz und meiner Freude am wissenschaftlichen Arbei­ten.() Ich bin aber vogelfrei, weil ich Niemandem nütze. Vielleicht ist das die schlimmste Einsamkeit, der man verfallen kann 19 , schreibt sie 1911 an eine Freundin. Im Gegensatz zu ihrem Privatleben, das zeitweise von Einsamkeit und solchen Selbstzweifeln geprägt war, zeigte ihr berufliches Leben eine stark aufsteigende Tendenz. 1912 wurde sie die erste Assistentin von Max Planck an der Preußischen Universität und bezog dafür das übliche Assistentengehalt von 100 Reichsmark. 1913 wurde sie am neu gegründe ­ten Kaiser-Wilhelm-Institut wissenschaftliches Mitglied und 1917 Leiterin der Physikalischen Abteilung. 1919 wurde ihr zwar der TitelProfessor verliehen, sie durfte aber nur privat Vorlesungen halten. Um den wissen­schaftlichen Austausch zu pflegen, wurde 1920 anlässlich eines Vortrages von Nils Bohr dasbonzenfreie Kolloquium, ein Forum ohne diediskus­sionsbeherrschenden älteren Professoren gegründet. Das Diskutieren auf Augenhöhe beflügelte die junge Generation von WissenschaftlerInnen. Forschungstätigkeiten, Vorlesungen, Einladungen u. a. nach Dänemark oder Holland so sehr sie das genoss, hinterließen Spuren an ihrer Gesundheit. Sie litt unter Schlaflosigkeit und das Sedativum Adalin wurde zeitweise zu ihrem täglichen Begleiter. 1922 erfolgte die Ernennung zur Privatdozentin, nach einem wissenschaftlichen Marathon durch Begutach­tungen und Probevorträge erhielt sie vier Jahre später offiziell den Titel