58 Tirol Nach Ansicht des Gewerbeinspektors Edgar Astolfi wies Tirol um 1900 unter allen Kronländern die besten Bedingungen für heimindustrielle Ge­werbe auf, nämlich hohe Berge mit abgelegenen Siedlungen sowie eine verhältnismäßig zahlreiche Bevölkerung bei kargen Bodenerträgnissen. Vor allem im südlichen Tirol wanderten viele Bewohner saisonal bzw. auf Dauer aus oder ergänzten die mangelnden Erträge aus der Landwirtschaft durchHausindustrie. Die Produzenten beschafften sich ihr Rohmaterial selbst. Die meisten waren für mehrere Abnehmer tätig, diese transportier­ten die erzeugten Gegenstände in andere Regionen und verkauften sie dort. Viele Heimarbeiter erzeugten Holzwaren wie Sessel, Rechen, Besen­stiele und Schuhe sowie Gefäße und Körbe aus Weidenruten. Andere produzierten aus Eisen Werkzeuge und Nägel. Die längste Tradition wiesen die bekannten Bildschnitzer im Grödnertal auf; sie lieferten u.a. Gegenstände sakralen Inhalts. Eine Reihe vonFass­malern bemalten und vergoldeten die Holzplastiken. Sie lebten vor allem in St. Ulrich, der Hauptgemeinde des Tals. Dort bestand auch eine staatli­che Fachschule für Zeichnen und Modellieren. Jährlich erzeugten rund 350 Personen Waren im Wert von etwa 250.000 Gulden, diese fanden Absatz bis nach Amerika und ins südliche Asien. Die Hersteller konnten dabei jährlich bis zu 1000 Gulden verdienen. Deutlich schlechter gestellt waren rund 1200 Bewohner des Tales, die aus Fichtenholz vor allem Spielwaren produzierten, darunter Pferde und andere Tiere, Gliederpuppen und Puppenköpfe sowie Wägen. Drei Viertel der Waren gingen ins Ausland, vor allem nach England und Deutschland, aber auch in die USA. Diese Heimarbeit fand im Winter statt. Kinder mussten ab dem sechsten Lebensjahr mithelfen, oft wurde bis tief in die Nacht gearbeitet. Viele Familien lebten im Elend, das Holz mussten sie aus den Gemeindewäldern entwenden. Noch schlechter gestellt waren die Spiel­zeugschnitzer im anschließenden Fassatal. Am untersten Ende standen die Heimspinnerinnen und Hausweber im südlichen Tirol. Ihre Zahl wurde auf 2000 geschätzt. Sie verarbeiteten für einheimische Abnehmer Hanf, Flachs und Schafwolle zu Tischzeug, Bettwäsche und Kleidung. Bei täglich 15 bis 16 Stunden Arbeit verdienten sie höchstens 150 Gulden jährlich. Das reich­te meistens nicht aus, um dem drohenden Hunger zu entkommen. Lit.: Bericht 1900, Lauboeck 1900