85 Die Ablösung vonnatürlichen Stoffen durchkünstliche Substanzen er­fuhr im 19. Jh. eine erhebliche Beschleunigung. Wie die hier ausgewählten Geschichten zeigen, lassen die beiden Begriffe einen erheblichen Spielraum für Interpretationen zu. Für eine Nachahmung mechanischer Prinzipien der Natur steht das erste Beispiel: Die kleinen Haken einer Pflanze, zu techni ­schen Zwecken genutzt, werden mit Hilfe kurzer Drahtstücke simuliert. Man könnte von einem bionischen Verfahren sprechen. Auf einer ähnlichen Ebene angesiedelt ist der Ersatz natürlicher Schleifmittel wie Schmirgel durch künstliche Stoffe, die mittels eines thermisch-chemischen Prozesses erzeugt wurden. Ein solcher ermöglichte auch die Herstellung künstlicher Kohlen anstelle der natürlich vorkommenden, unreinen Kohlenstoffverbindungen. Natürliche pflanzliche und mineralische Gerbmittel dienten über viele Gene ­rationen dazu, tierische Häute mittels chemischer Behandlung zu konservie­ren, also Leder zu erzeugen. Das veranlasste manche Forscher sogar, Leder als den ersten Kunststoff zu bezeichnen. Die chemische Analyse der gerben­den Substanzen führte zu einem besseren Verständnis des Prozesses; auf dieser Basis konnten schließlich synthetische Wirkstoffe hergestellt werden. Die Untersuchung des Steinkohlenteers hatte ähnliche Konsequenzen für die Erzeugung künstlicher Farben der sogenannten Teerfarben, und zwar mit weitaus größeren wirtschaftlichen Auswirkungen. Nach weiteren For­schungen dienten die im Teer enthaltenen Substanzen später zur Herstel­lung einer ganzen Reihe neuartiger und höchst wirksamer Medikamente. Seide besteht zu einem erheblichen Teil aus Zellulose. Um ihre Eigenschaf­ten nachzuahmen, wurde Zellulose aus pflanzlichem Material vorbehandelt und mit Hilfe einer Spinndüse sowie eines Fällbads in die gewünschte Fadenform gebracht. Die BezeichnungKunstseide wurde später auch auf andere Materialien ausgeweitet, die bereits Kunststoffe im heutigen Sinn des Wortes darstellen, beispielsweise auf das 1937 patentierte Polyamid Nylon. Die Kunststoffe des 20. Jhs. im heutigen Verständnis des Begriffs und daraus hergestellte Waren sind in der Warenkundesammlung mit mehreren hundert Objekten vertreten. Bezeichnungen wieKunstschellack oderKunstbutter in diesem Bestand verweisen auf weitere Aspekte der Künstlichkeit. FARBSPEKTRUM DER KUNSTSEIDE, Farbwerke vorm. Meister Lucius& Brüning, Höchst am Main, um 1900, Inv.Nr. 80849