83Die Briefe von Müttern und Vätern, Ehefrauen und Freunden auf der Suchenach vermissten Soldaten lesen sich natürlich anders als die zur gleichenZeit publizierten Feldpostbriefe aus der Perspektive junger Frontsoldatenim„Stahlgewitter”. Sie bringen den Blickwinkel der Betroffenen in derHeimat in der ganzen Spannbreite von angstvoller Ungewissheit bis dankbarer Erleichterung zum Ausdruck. Zugleich werden die Worte sorgfältiggewählt, um nicht den Argwohn der Zensoren zu wecken, ganz besondersin den(nicht mehr erhaltenen) Mitteilungen, die den Briefen beigelegtwurden, um in die Kriegsgefangenenlager weitergesendet zu werden.Dazu ein Beispiel:„5. Dezember 1914.Hochgeehrter Herr Stabsarzt!Dem Dank meiner Tochter für Ihre Güte und Bereitwilligkeit schließe ichmich voll Ergebenheit und Innigkeit an. Seien Sie überzeugt, daß ich IhreDienste nie vergessen werde, und daß ich mich danach sehne, Ihnen dievolle Dienstbereitschaft und dankbare Hingabe meiner Familie zeigen zukönnen. – Leider sind wir seit dem 5. November, also durch einen vollenMonat ohne Nachricht von unserem Sohn. Telegramm kam nicht.Man macht sich tausend Vorstellungen, man ist gequält und verzweifelt.Möchten wir doch nur bald wissen, ob unser Junge lebt, ob er gesundist und wie es ihm geht. Ich schließe einige Zeilen an den Jungen bei:Vielleicht erreichen ihn diese Zeilen seines Vaters. Sind Stellen darin, dieIhnen als nicht gut zum Passieren der Zensur dünken, dann bitte ich sie zustreichen.Es bleibt in Dankbarkeit ergeben Dr. Krenberger.”47Trotz aller inneren Bedrängnis war den Schreibern bei jeder Zeile bewusst,dass ihr Brief, ihre Karte von Fremden gelesen und kritisch bewertet werden würde; dass sich die quälende Wartezeit auf ein Lebenszeichen ausder Ferne verlängern würde, je„verdächtiger” man sich mit unbedachtenschriftlichen Äußerungen bei den Zensurbehörden machte. Das Hintanhalten der eigenen Ängste, das Verschweigen dessen, was wohlbekannt war,insbesondere negative militärische Entwicklungen oder die schlechte Versorgungslage im Hinterland – kurz: die Selbstzensur – waren genau das,was die Kriegszensur zu erreichen trachtete. Deshalb machte der Staat