94 Das Spiel der Straße Kinder, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einem euro­päischen Land geboren wurden, wuchsen in einer Atmosphäre auf, in der nationale Feindbilder omnipräsent waren. Ihr Alltag war davon geprägt, sich ständig damit auseinanderzusetzen. Die Bedeutung, die die Kinder­und Jugendliteratur an diesem Alltag hatte, lässt sich schwer einschät­zen; jene der beschriebenen Spiele und Spielwaren ist bestimmt nicht besonders groß gewesen. Sie können als pointierte Repräsentanten der herrschenden Atmosphäre bewertet werden. Einen besonderen Beitrag zur Erziehung der Kinder, wie das teilweise von den Herstellern intendiert war, haben sie wohl nicht geleistet. Dazu war das kann man pauschal sagen ihre Verbreitung nicht groß genug. Bereits im September 1914 beschwerte sich das Organ der Spielwarenhersteller, die Deutsche Spiel­warenzeitung, dass die Branchezu den Luxusindustrien gezählt werde. Es sei doch wichtig,vermittelst Spielzeugen den Kindern die Entwicklung der nächsten Ereignisse einzuprägen undihnen nationalen, aufrechten, vaterländischen Geist einzuimpfen. 17 Der Anspruch, den die Spielwarenhersteller gewissermaßen als ihren Beitrag zu einer patriotischen Gesinnung formulierten, ließ sich nicht einlösen, jedenfalls nicht in der bei weitem überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Die teuren Puppenstuben und Baukästen konnten sich nur vermögende Bürger leisten. Und je länger der Krieg andauerte, desto gerechtfertigter war die BezeichnungLuxusindustrie. Wenn in Lebens­erinnerungen von Spielwaren die Rede ist, die man in der Zeit des Ersten Weltkriegs geschenkt bekam, dann sind das häufig Erzählungen, die vom Mangel handeln. 18 Selbst das Papier, das man für kleine Basteleien, für Ausschneidebögen oder einfach zum Bemalen verwendete, wurde nach und nach ein knappes Gut. Auch boten vor allem für die Arbeiterkinder in Städten wie Wien die beengten Wohnungen kaum Platz für das Spielen. Da blieb[] nur noch die Straße. Man spielte Verstecken, Räuber und Gendarm, Tempelhupfen und inszenierte auf dem freien Gelände der Schmelz Kämpfe gegen Kinder benachbarter Bezirke. 19 Damit ist ein Hinweis auf eine Kultur der Aggression gegeben, die zwar nicht auf den Ersten Weltkrieg beschränkt ist, aber durch diesen eine reale Entsprechung gefunden hat.Damals gab es noch viele freie Lücken in den Häuserzeilen, schreibt ein 1902 geborener Sohn von Arbeitern,ideale Spielflächen für uns Kinder innerhalb des Wohnbezirkes. Und:Wir Kinder spielten ‚Krieg, oft Bezirk gegen Bezirk, ja Straße gegen Straße. Die Polizei