DOI 10.60531/INSIGHTOUT.2023.1.7| HAGEMANN, WAGNER: LUNCHABLES_ INSIGHTOUT 1(2023) 64 Anhand des wahrscheinlich einzigen deutschsprachigen Fernsehspots für Lunchables aus dem Jahr 1998 wollen wir zeigen, wie intrikat die Rekonstruktion von Klassenverhältnissen in medialisierten Artefakten, die der Vermarktung eines Produkts dienen, zuweilen ist. 10 Es liegt auf der Hand, dass Werbende in ihren Reklamedesigns die realistische Darstellung ‚armer‘ Menschen eher vermeiden werden bzw. liefert die Geschichte der Fernsehwerbung hierfür einen recht eindeutigen Befund: Der Fokus des werbenden Blicks liegt im Medium audiovisueller Produktwerbung in ‚westlichen‘ Kontexten historisch invariant auf einer bürgerlichen Mittelschicht und fällt damit weitgehend mit der Zielgruppe der in diesen Werbungen beworbenen Produkte zusammen. Anders gesagt: Das Bürgertum als Basis ‚westlicher‘ Einzelhandelskonsum- und Populärkultur ist marktlogisch folgerichtig auch Hauptadressat der in diese Kultur integrierten Werbung für ihre Konsumprodukte. Hiervon ausgehend richtet sich der Blick der Mittelschicht allenfalls nach oben und repräsentiert, sofern er nicht in bürgerlichen Verhältnissen verbleibt, am ehesten wiederum bürgerliche Vorstellungen vom Leben in höheren Klassen, etwa Phantasien vom Luxuslifestyle adeliger Menschen bei ihren(nicht zu) dekadenten Zusammenkünften. Werden davon abweichende Kontexte thematisiert, nutzen die Spots fast durchgängig deutliche Marker für den Inszenierungs- und Ironiegehalt des Gezeigten. 11 Unser Befund ist, dass Produktwerbung in Deutschland so gut wie immer einen klassenpolitisch ‚mittleren‘ Blick einnimmt, der Abweichungen hinsichtlich ‚race‘, ‚gender‘ und ‚class‘ generell nur als von diesem Blick gefärbte Phantasie repräsentieren kann. Das gilt für Werbungen aus den 1990er-Jahren(dem Jahrzehnt unserer Kindheit), auf denen bisher unser Hauptaugenmerk lag, noch mehr als für aktuelle Beispiele. Zugleich unterliegt die Repräsentation von Klassenstrukturen in diesem Zusammenhang offenbar besonderen Regeln. Das mag daran liegen, dass zahlreiche Produkte sich eigentlich doch dezidiert an eine einkommensschwache Zielgruppe richten und gern an sie vermittelt werden sollen, die Werbesprache aber nicht über Methoden zur relativ diskriminierungsfreien und zugleich werbewirksamen Darstellung dieser Zielgruppe verfügt. Sichtbare Armut ist nicht gut für das Geschäft, birgt die Gefahr, als konfrontativ wahrgenommen zu werden, ist mit Negativität korreliert und auch für Betroffene werbetechnisch potenziell unattraktiv – sie widerspricht insgesamt dem Imperativ von Reklame, als ungebrochenes Versprechen eines ‚guten Lebens‘ fungieren zu müssen. Darüber hinaus entstammen die meisten Akteur_innen, die an der Produktion von Werbung beteiligt sind, bis heute eher der Mittel- als der sogenannten Unterschicht und verfügen also schlicht nicht über authentisches Erfahrungswissen vom Leben unter den Bedingungen dauerhafter ökonomischer Existenzangst. Und schließlich ist die Ausbildung der ‚westlichen‘ Konsumkultur stark mit Vorstellungen gesellschaftlichen Aufstiegs verbunden, sodass Darstellungen ‚armer‘ Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Situation bestimmte Produkte konsumieren, werbestrategisch schlicht unlogisch sind. Werbung für Produkte für Menschen mit geringem oder keinem Einkommen spielt daher – für die 1990er- und 10 Der Spot auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=u_KSv4exw-0(28. 7. 2023). 11 Etwa in der bekannten Mittelalter-Kampagne des Wurstherstellers Rügenwalder, in der ein offenbar außerhalb der Gesellschaft stehender Vertreter einer auf dem Land lebenden Reichsbürgersekte eine Gruppe Hausfrauen in einer Fleischerei überrumpelt, den Laden leerkauft, vielleicht auch ausraubt, und zu seiner um eine rote Mühle mit Wurstflügeln versammelten Community zurückreitet. Die Situation des blonden Hünen, der die verschreckte, nurmehr wispernde Verkäuferin mit wenigen Halbsätzen und einem eindringlichen Blick zur Herausgabe aller dicken Würste verführt, dockt unmissverständlich an Szenen aus Kolportageromanen, Liebesfilmen im viktorianischen Stil und ähnlichen Phantasien von der Überwältigung kleinbürgerlicher Frauen durch stattliche Landburschen an. Der Spot auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=MwYQMpd_eZA(28. 7. 2023).
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