DOI 10.60531/INSIGHTOUT.2024.2.12| KOULI: HISTORIOGRAPHIE ZUR EUROPÄISCHEN DESSOUS-GESCHICHTE_ INSIGHTOUT 2(2024) 86Die„Corset Controversy“27in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt ebenfalls, dass sichWahrnehmung und Rolle von Unterwäsche erheblich wandeln könnten. Valerie Steele, Autorin zahlreicher Bücher zur Geschichte der Unterwäsche, argumentiert, dass es in Bezug auf die Corsage dreiGruppen gegeben habe, die sich gegenübergestanden hätten. Während eine Gruppe Corsagen fürungesund, abstoßend und unmoralisch hielt, fandeine andere sie akzeptabel, sofern die Schnürungnicht gesundheitsgefährdend sei. Eine dritte, sichstark in der Minderheit befindende Gruppe, triebdie Schnürung der Taille auf die Spitze.28Ähnlichwie bei den Büstenhaltern konnte man mithin auchbei der Diskussion über Wohl und Wehe der Corsagen Argumenten begegnen, bei denen die Gesundheit und die Ästhetik der Frau einander gegenübergestellt wurden.Diese Darstellung basiert jedoch auf einer wichtigenVoraussetzung: Sie ist nur plausibel, wenn man annimmt, dass die Debatten innerhalb derselben Gesellschaften geführt wurden. Genau das war jedochnicht der Fall. Die von Steele angeführte„CorsetControversy“ dominierte im Vereinigten Königreich.In Deutschland und Frankreich war der Diskurs einanderer. Länderübergreifende Arbeiten liegen nurwenige vor. Colleen Hills„A History of Lingerie“ beleuchtet„women’s private lives“, was konkret Frankreich, Deutschland und England umfasst.29Freilichfindet keine gezielte Unterscheidung der drei Gesellschaften statt. Soziologische Werke wie JoanneEntwistles„The Fashioned Body“ widmen sich demVerhältnis von Kleidung und Mode.30Ziel Entwistlesist in erster Linie die Schaffung der theoretischenGrundlagen für eine solche dann noch vorzunehmende Analyse.Der Teil dieser Rezeptionsforschung, der sich in hohem Maße den visuellen Darstellungen von Dessouswidmet, bezieht sich in erster Linie auf Frankreich,oder stammt gar von dort. Das spiegelt sich auch inder Art der Publikationen wider, unter denen Bildbände eine wichtige Rolle einnehmen. Zazzo thematisiert in ihrem Werk über Dessous deren Wahrnehmung, wobei ihre Arbeit im 18. Jahrhunderteinsetzt.31In ähnlicher Weise nähern sich Barbierund Boucher dem Thema an, wobei sie Mitte des 19.Jahrhunderts mit dem Erscheinen der Reklame alsneue Verkaufstechnik beginnen.32Eine Dessousgeschichte als„Verführungsgeschichte“ hat Manfertomit seinem Bildband vorgelegt.33Den genannten Arbeiten ist gemein, dass sie die Damenunterwäscheins Zentrum stellen und den Wandel der Moden aufzeigen. In diesen Arbeiten kommt Frankreich ein erhebliches Übergewicht zu, andere Ländern kommenkaum vor. Eine Ausnahme ist dabei Cecil Saint-Laurent, die in ihrer„Sittengeschichte der weiblichenDessous“ explizit herausarbeitet, dass ein„zweihundertjähriger Kampf gegen die Mode-Autorität vonParis[…] die Frauen dieser Länder[USA, Englandund Deutschland, Y.K.] dazu gebracht“ habe, den„Mode-Plagen“ – Gesäßpolster, Krinoline, Corsagen– aus Frankreich zu widerstehen.34Steele folgt diesem faktisch-nationalen Ansatz, indem sie in ihrenArbeiten insbesondere auf die englische Haupt27V. Steele:Fashion and eroticism. Ideals of feminine beauty from the Victorian era to the Jazz Age. New York 1985, S. 161.28Ebd., S. 162. In ähnlicher Weise wandelte sich Rezeption der Herrenmode durch Frauen, etwa Anfang des 20. Jahrhunderts:„Galtdie Männermode bis dahin als Ausdruck der Modernität, so erscheint sie nun als eher konservativ, zu sehr an dem starren, einfarbigen bürgerlichen Anzug festhaltend“; Mentges, siehe Anm. 15, S. 57.29C. Hill, V. Steele:Exposed. A history of lingerie. New Haven, London 2014.30J. Entwistle:The fashioned body. Fashion, dress and modern social theory.2. Aufl. Cambridge(UK) 2017.Un31M. Walter, A. Zazzo:Dessous. Imaginaire de la lingerie. Paris 2009.32M. Barbier, S. Boucher:Die Geschichte der Damenunterwäsche.New York 2016.33V. Manferto(Hg.):Dessous. Wiesbaden 2010.34C. Saint-Laurent:Drunter. Eine Kultur- und Phantasie-Geschichte der weiblichen Dessous. Wien 1988, S. 135.