DOI 10.60531/INSIGHTOUT.2024.2.12| KOULI: HISTORIOGRAPHIE ZUR EUROPÄISCHEN DESSOUS-GESCHICHTE_ INSIGHTOUT 2(2024) 87 stadt Bezug nimmt. 35 Auch die kürzlich entstandene Dissertation der Kunsthistorikerin Nina Goldt-Strauß beschränkt ihre Analyse auf Frankreich. 36 Etwas anders stellt sich die Sachlage im Folgenden dar: Die zweite Gruppe von Publikationen nimmt die Unterwäsche selbst in den Blick. Diese Werke erwecken oft den Eindruck, einen paneuropäischen Ansatz zu verfolgen, indem sie einen Fokus auf die Produkte anstatt auf die betroffenen Marktgesellschaften haben. Es muss dabei jedoch konstatiert werden, dass sich der„paneuropäische“ Ansatz faktisch doch als einer entpuppt, der nur auf wenige Länder Bezug nimmt. In praxi werden nationale Schwerpunktsetzungen vorgenommen, die jedoch nicht explizit benannt werden und damit nolens volens ein Forschungsdesiderat freilegen. Eine Publikation des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg („Auf nackter Haut“, 2015) ist ein aufschlussreiches Beispiel. Das Werk setzt Mitte der 1870er Jahre ein (1875-1919). In dieser Phase standen gesundheitliche Erwägungen im Vordergrund. Die Epoche nach 1919 (bis 1935) war dann durch körperbetonte Wäsche charakterisiert, um dann ab 1935 bis in die frühe Nachkriegszeit wieder in eine Phase überzugehen, in der körperliche Ertüchtigung und Sport dominierten. Die Zeit zwischen 1947 und 2005 wurde nochmal in zwei Phasen unterteilt, wobei sich die Zäsur von 1967 insbesondere durch einen Wandel in der Produktpalette des Unternehmens„Schiesser“ erklärt. 37 Schiessers Geschäftsmodell bestand seit jeher darin, sich über Qualität auf dem Markt zu behaupten. 38 Wenn Schiesser versuchte, den Körper der Frauen zu formen, tat es dies mit einem kaum sichtbaren Unterkleid, nicht in so massiver Weise, wie es bei Corsagen der Fall war. Auch das In-Szene-setzen spielte eine weit geringere Rolle. In den späten 1930er und frühen 1950er Jahren wurde zwar farbenfrohe, feminine Unterwäsche angeboten. Danach kehrten die Firma jedoch wieder zu dem zurück, wofür sie bekannt war. Das Gleiche gilt für die Firma„Wilhelm Benger Söhne“, die 1874 gegründet wurde und 1983 geschlossen werden musste. Bei diesem Unternehmen spielte Ästhetik ebenfalls eine geringere Rolle. Im Zentrum der Schriften stehen für die Epoche vor 1914 gesundheitliche Aspekte, mithin die Hygiene, die Regulierung des Wärmehaushalts und der„Wärmeausdünstungen“ sowie die Pflege der Haut. 39 Hinzu kommt der Wandel der Unterwäscheformen, Hinweise auf Bademoden und das Aufkommen elastischer und farbiger Waren. 40 Auch das Historische Museum Frankfurt am Main(HMF) organisierte 1988 eine Ausstellung. Die begleitend herausgegebene Publikation ist mit 381 Seiten erheblich umfangreicher und deckt auch einen breiteren Zeitraum ab(1700–1960). Auch dort dominiert der Blick auf Deutschland. Einflüsse aus dem Ausland werden nur punktuell eingebracht, etwa wenn zu Beginn der 1850er Jahre die Verbreitung der US-amerikanischen Beinkleider in Deutschland problematisiert wird. 41 Dass es sich bei dieser Prominenz des Gesundheits- und Sportaspektes um ein deutsches Spezifikum handelt, ist daher eine naheliegende Vermutung. Explizit wurde dies jedoch bisher nicht untersucht. Jedenfalls fällt auf, dass in 35 V. Steele:„The Corset: Fashion and Eroticism“, in: Fashion Theory 3(1999), Heft 4, S. 449–473; V. Steele:„ Femme Fatale : Fashion and Visual Culture in Fin-de-siècle Paris“, in: Fashion Theory 8(2004), Heft 3, S. 315–328; V. Steele: The Corset. A cultural history. New Haven 2001; Valerie Steele, siehe Anm. 27. 36 N. Goldt: Portrait à la mode. Weibliche Figurenbilder der École de Paris zwischen Belle Époque und Années folles . Berlin, Düsseldorf 2022. 37 Schnabel, siehe Anm. 26. In genannten Ausstellungskatalog steht das Unternehmen Schiesser stark im Zentrum. 38 Sie schreiben das auch explizit, etwa wenn sie 1939 mit der Aufschrift„Schiesser ist Qualität – und der Beweis dafür“ werben; Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg B 0127/BÜ 97. 39 Schnabel, siehe Anm. 26, S. 36–63 . 40 Ebd., S. 3. 41 Junker, Stille, siehe Anm. 24 S. 238; J. Teunissen:„Kleider in Bewegung: Die moderne, unabhängige Frau in den Medien“, in: M. Ch. Härtel u.a.(Hg.): Kleider in Bewegung. Frauenmode seit 1850. Petersberg 2020, S. 125–135.
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Vorschlag für eine Systematisierung der Historiographie zur europäischen Dessous-Geschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts
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