DOI 10.60531/INSIGHTOUT.2023.1.12| GERBER, KÜHNLENZ: ESSEN DE-KONSTRUIEREN_ INSIGHTOUT 1(2023) 10sich um ein soziokulturelles Phänomen, das historisch, kulturell und diskursiv bestimmt wird.1Prägendsind dabei, gerade im westlichen Denken, binäreKategorien wie Mann/Frau, Rohes/Gekochtes oderHausarbeit/Lohnarbeit. Diese infrage zu stellen istder Anspruch der Dekonstruktion. Hierarchisierungen, die innerhalb solcher Begriffspaare angelegtsind, können dabei ebenso analysiert und hinterfragtwerden wie vermeintlich eindeutige geschlechtlicheZuschreibungen. Wird Dekonstruktion darüber hinaus als Aufmerksamkeit für Strukturen und Konstruktionen verstanden, die im gleichen Moment wiederinfrage gestellt oder demontiert werden, lassen sichBrücken zu queertheoretischen Ansätzen schlagen.„Toqueerfacts means to shake their supposed naturalness“2: Das Wort„queer“ – eigensinnige Aneignungund positive Neubesetzung eines pejorativen Begriffsfür nicht heteronormative Lebensstile und Sexualitäten – verweigert sich per definitionem einer klaren Bestimmung. Queeren als Praxis will verunsichern, hinterfragen, auf vage aufscheinende Zwischenstufen,ausgeblendete oder untergeordnete Bedeutungenund ganz allgemein auf deren Unabgeschlossenheitund Fluidität aufmerksam machen.3Queerfeministische Sichtweisen auf Essen und Ernährung – ob imMuseum oder anderen Kontexten – stellen selbstverständlich, eindeutig, klar und natürlich erscheinendePraktiken und Konstellationen beim Anbauen, Zubereiten, Anbieten, Verzehren, Ver- und Bewerten vonNahrungsmitteln zur Disposition. Dieses Potenzialder Dekonstruktion von auf den ersten Blick natürlich oder ahistorisch wirkenden Praktiken und(nichtzuletzt gegenderten) Rollenzuschreibungen im Feldder Ernährung loten die Beiträge in ihrem jeweiligenThemenfeld gemeinsam aus.Einerseits ist das, was wir essen, etwas Gemachtes– Lebensmittel werden unter anderem gezüchtet, angebaut, kultiviert, verarbeitet und gegart. KulturelleVorstellungen beeinflussen ebenso, was wir essen,wie eine breite Palette von Technologien vom Feuerbis zur Gentechnik. Wie Lebewesen durch Agrar- undBiotechnologie zu Lebensmitteln oder„Biofakten“4werden, zeigtNaomi Hammetteindrücklich anhandvon Milchkühen als„Milchmaschinen“. Welche Zukünfte für„queer cows“ vorstellbar sind und wie dieGrenzen zwischen Natur und Kultur in der modernenMilchproduktion verschwimmen, diskutiert sie mit einem„multispecies“-Ansatz, der auf die Fragilität vonvermeintlich eindeutigen Gegensätzen verweist.Nicht nur, was gegessen wird, ist ausschlaggebend,sondern auch(Auf-)Zucht, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln. Das zeigtSahar Tavakoliin ihrem Beitrag, der sich der Konstruktion vonNationen über das Essen nähert. Regionale Lebensmittel und solche mit Ursprungsbezeichnung odergeografischer Angabe sind ebenso wie die mit ihnenverbundenen Vorstellungen Bestandteil von Konstruktionen soziotechnischer Systeme, wie Nationenes sind. Damit knüpft Tavakoli einerseits an die Ideedes„Gastronationalismus“ an und nutzt andererseitsdas aus der Wissenschafts- und Technikforschunghervorgegangene Konzept von„sociotechnical imaginaries“, um eine Performance des italienischenFleischers Dario Cecchini zu untersuchen. Die darin geschaffenen imaginären Szenarien einer erstrebenswerten(Essens-)Zukunft betrachtet sie insofernals„Camp“(im Sinne von Susan Sontag), als sie dieVergangenheit spiegeln:„Where we wish to be iswhere we have already been“.1Vgl.„Gender“, in: Anna Babka, Gerald Posselt:Gender und Dekonstruktion. Begriffe und kommentierte Grundlagentexte der Gender- und Queer-Theorie.Wien 2016, S. 56.2Sophie Gerber:„Labelling Machines and Synthesizers: Collecting Queer Knowledge in Science and Technology Museums“, in:Museum International 72(2020), Heft 3–4, S. 116–127, hier S. 127, Anm. 1.3Vgl. Sophie Kühnlenz:„Eindeutig uneindeutig, beständig unbeständig. Museum queer-feministisch: Gedanken zum Weiterdenken“,in: Martina Griesser-Stermscheg, Christine Haupt-Stummer, Renate Höllwart u. a.(Hg.):Widersprüche. Kuratorisch handeln zwischenTheorie und Praxis(= curating. ausstellungstheorie& praxis, Band 6). Berlin, Boston 2022, S. 195–198.4Nicole C. Karafyllis(Hg.):Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen.Paderborn 2003, insb.„DasWesen der Biofakte“, S. 11–27.