DOI 10.60531/INSIGHTOUT.2023.1.7| HAGEMANN, WAGNER: LUNCHABLES_ INSIGHTOUT 1(2023) 67 Überraschung erfüllt werden, die in verschachtelter Anordnung ein vor dem Kauf nicht sichtbares klei­nes Spielzeug in einer Plastikkapsel enthält, die sich wiederum in einem Schokoladenei befindet. Stellt in der Lunchables -Werbung noch die Mutter aus dem Off die Lösung für die an sie gestellte Ernährungs­aufgabe vor, ist es diesmal der Sohn, der für seine Beratung zudem ein Honorar in Form eines eigenen Überraschungseis einstreicht. Für die Befriedigung kindlicher Bedürfnisse in Erziehungs- und Ernäh­rungsverhältnissen und die Erreichung gesellschaft­lich und neoliberal idealisierter Positionen wie jener des klugen Geschäftsmanns, die grundsätzlich end­liche und klassenbedingt unterschiedlich verfüg­bare Ressourcen wie Zeit, Geld, Anerkennung oder Gesundheit erfordern, wird in den beiden Werbe­spots eine(vermeintlich) effiziente und zeitsparende Lösung angeboten, die besonders attraktiv in Hin­blick auf eine potenzielle Ressourcenknappheit von Kund_innen erscheint und mit einer positiv attribuier­ten Erfahrungsphantasie verknüpft wird. Auf diese Weise können Werbungen für prekäre Verhältnisse, ohne diese repräsentieren und damit explizit thema­tisieren zu müssen, vermeintlich einfache Lösungen empfehlen. Gleichzeitig werden dabei die Fragen nach den komplexen Bedingungen für das ‚Gelingen von Eltern/Kind-Beziehungen oder das Erlangen prestigeträchtiger gesellschaftlicher Positionen auf unterkomplexe und die elterliche Sorgearbeit poten­ziell aushöhlende Weise beantwortet, indem das zur Verfügung gestellte ‚Wissen zuvorderst spezifische Konsumentscheidungen empfiehlt. Unter der Annahme, dass Lebensmittelwerbungen wichtige Bedeutungsproduzenten sind, die Lebens­mittel, ihren Erwerb, ihre Bereitstellung und ihren Konsum mit Semantiken belegen, die von Kund_in­nen aufgenommen werden können und auch auf­genommen werden, und dabei implizit auf Klassen­verhältnisse Bezug nehmen, halten wir ihre Analyse und Diskussion für eine Ressource klassenpolitischer Selbstermächtigung. Interventionen können konkret dort ansetzen, wo Lebensmittelvermarktungen das essens- und ernährungsbezogene Sprechen, Denken, Fühlen und Handeln im sozialen beziehungsweise familiären Milieu der eigenen Kindheit und Jugend geprägt und zum Beispiel variabel einsetzbare, aber auch semantisch diffuse Aufwertungsvokabeln wie ‚frisch verbreitet haben. 14 Dies bezieht sich zunächst auf Produkte, zu denen es überhaupt Werbungen gibt. Gleichzeitig kann die Analyse solcher Marken­artikel erweitert werden, indem die Vermarktung und Designrhetorik derjenigen Produkte angeschaut wird, die durch die Nachahmung von Markenartikeln entstanden sind oder von denselben Marken unter einem anderen Namen und für weniger Geld in Dis­countern angeboten werden. Dabei ist zu beachten, dass Klassenzugehörigkeiten sich mit anderen ge­sellschaftlichen Dimensionen überschneiden. Zum Beispiel lässt sich vermuten, dass in Kontexten, die in besonderem Maße von migrationsgesellschaftlichen Bedingungen geprägt sind, diskursive Formationen rund um die oben diskutierten Werbungen des(Halb-) Fertigessens, die dezidiert eine ‚weiße Bevölkerung adressieren, weniger bedeutsam sind. Die Techni­ken, Wissensbestände und Formen der Verpflegung von Kindern können folglich innerhalb einer gemein­samen oder ähnlichen Klassenzugehörigkeit stark variieren. Eine Untersuchung des Zusammenhangs von ‚Klasse und ‚Essen würde folglich auch von der 14 Vgl. etwa die Werbespots der Marke Erasco zu einem konservierten Nudeltopf(https://www.youtube.com/watch?v=MtO2lNZPI­CE&ab_channel=VhsChorizo, 28. 7. 2023) oder der Marke Dr. Oetker zu der TiefkühlpizzaDie Ofenfrische(https://www.youtube. com/watch?v=V1x6eG2CkfI&ab_channel=StephanCooper, 28. 7. 2023). Wie bedeutsam es ist, wenn Mahlzeiten weitgehend unab­hängig von ihrer Zubereitungsform bei der Bereitstellung als ‚frisch ausgewiesen werden, wissen wir aus eigener Erfahrung. Über die Aufwertung der Mahlzeit hinaus kann die Attribuierung ‚frisch als Akt einer symbolischen Aktualisierung der sozialen Beziehungen der am Essen beteiligten Personen, z. B. Mutter und Sohn, verstanden werden, kontextabhängig aber auch auf Gefühle der Scham des Essen bereitstellenden Elternteils verweisen, wenn eine Ahnung um die gesellschaftliche Nicht-Anerkennung der Mahlzeit be­steht.