DOI 10.60531/INSIGHTOUT.2024.2.7| NIEDERBERGER: WIE INFRASTRUKTUREN USER MACHEN_ INSIGHTOUT 2(2024) 40 Identitätsbildung geschieht auch im Alltag, ohne dass wir uns bewusst dazu verhalten. Im ganz gewöhnlichen digitalen Alltag mit all seinen unscheinbaren, sich wiederho­lenden Handlungen, den Konventionen und Selbstverständlichkeiten bildet sich heraus, was es bedeutet ein:e User:in zu sein. Dieses implizite Verständnis ist schwer zu fassen und zeigt sich oft erst in Krisen deutlicher. Die Twitter-Krise Als Elon Musk Ende Oktober 2022 Twitter kaufte, begannen viele User:innen nach Alternativen zu su­chen. Eine der Alternativen war Mastodon, ein Mikro­blogging-Dienst ähnlich wie Twitter, der aber im Gegensatz zu Twitter nicht im Besitz eines Unterneh­mens ist. Mastodon ist ein Netzwerk von miteinander verbundenen Servern, die oft von kleinen Kollektiven und gemeinnützigen Organisationen betrieben wer­den. Schon im Vorfeld der Twitter-Übernahme sowie anschließend bei jedem neuen Kurswechsel unter der neuen Führung verzeichnete das Mastodon-Netz­werk Wellen von Neuanmeldungen. Seitens der User:innen wurde der Wechsel zu Mastodon jedoch oft als eine Krise der Subjektivität erlebt: Abb. 1: Screenshot eines Twitter-Posts eines Freundes von mir (2022) Es ist wichtig zu verstehen, dass dies nicht nur eine Artikulation einer persönlichen Krise ist. Wenn mein Freund hier sagt, dass er kein Nerd ist und Mastodon daher nichts für ihn sei, geht es nicht nur um ihn. Er artikuliert hier auch zwei unterschiedliche Subjekt­positionen von technologischer Praxis: User:in und Nerd. Sie unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zu Technologie: ein Nerd ist zwar kein:e professionelle:r Programmierer:in, verfügt aber über selbst angeeig­netes technologisches Fachwissen, während ein:e User:in einfach eine konsumierende Person ohne Fachwissen und auch ohne Bedürfnis nach vertief­ter Auseinandersetzung ist. 3 Weil der Unterschied der Subjektpositionen über eine interessensgeleite­te technologische Fachkompetenz definiert ist, ist es auch nicht einfach möglich, von einem User oder einer Userin zum Nerd zu werden. Das heißt, die As­soziation von Mastodon mit Nerds führt dazu, dass es als ausschließend für User:innen verstanden wird. Woher aber kommt diese starke Assoziation von Mastodon mit Nerds, wenn Mastodon doch ein sehr ähnliches Medium ist wie Twitter, nämlich ein Blog­ging-Service? Warum glaubt mein Freund, dass Mas­todon nur für Nerds sei? Die Rückkehr des Servers: Infrastruktur und Subjektivität Der erste große Unterschied für User:innen zwischen Mastodon und Twitter liegt im Anmeldeprozess. Hier fordert Mastodon die User:innen auf, einen Server auszuwählen, dem sie beitreten wollen. Um diese Frage zu beantworten, müssen User:innen sich auf eine ganz andere Weise identifizieren als auf großen Technologieplattformen wie Twitter: Bei der Anmel­dung auf einer kommerziellen Plattform werden die User:innen aufgefordert, sich über die Angabe von User-Namen und Email-Adressen oder Telefonnum­mern als klassisches liberales Individuum zu identi­fizieren. Im Gegensatz dazu werden die User:innen bei der Anmeldung für Mastodon aufgefordert, ei­nen Server zu wählen, was bedeutet, dass sie sich zuerst in Bezug auf eine Gemeinschaft identifizieren müssen, bevor sie sich als Individuum identifizieren können. 3 O.V.:Nerd. Merriam-Webster.com Dictionary, Merriam-Webster, https://www.merriam-webster.com/dictionary/nerd(24.6.2024).